K. Kopp u.a. (Hgg.): Die „Großstadt“ und das „Primitive“

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Title
Die „Großstadt“ und das „Primitive“. Text - Politik - Repräsentation


Editor(s)
Kopp, Kristin; Müller-Richter, Klaus
Series
M&P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung
Published
Stuttgart 2004: J.B. Metzler Verlag
Extent
268 S.
Price
€ 39,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Kristina Starkloff, Graduiertenkolleg "Bruchzonen der Globalisierung", Universität Leipzig

Die Aufsatzsammlung enthält die Beiträge der gleichnamigen, interdisziplinären Konferenz, die Ende 2001 im Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) im Gesamtkontext des dort bestehenden Forschungsprojektes „Metropolen im Wandel“ stattfand.
Im Zentrum steht, wie der treffend gewählte Titel bereits verrät, das Primitive oder genauer die „Imaginationsfigur des Primitiven“ (S. 6), das in dem zu Grunde liegenden Zeitraum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in den Großstädten und den das Urbane betreffenden Diskursen, stark präsent war. Dies überrascht zunächst, erscheinen diese Zentren, vor allem im Kontext von Entwicklung und Fortschritt, untrennbar mit Modernität und Zivilisation verbunden. Die Erklärung liegt im imaginären Raum Großstadt selbst. Die Existenz des Primitiven war explizit zu dieser Zeit anwachsender internationaler (wirtschaftlicher) Vernetzung, in der sich Modernität, die Metropole und ihre Bewohner stets auf neue definieren mussten, unabdingbar, oder wie die Herausgeber formulieren: Ihre „Modernität […] begründet sich aus der emphatischen Differenz zum Primitiven, das sie aber zugleich permanent selbst erzeugt.“(S. 12)
Angesichts dieser Argumentationskette verwundert es, dass zusammenhängende Analysen auf diesem Gebiet bislang fehlen. Ein Forschungsloch, das mit der vorliegenden „kulturwissenschaftlich erweiterten Untersuchung“ (S. 5) zumindest ansatzweise „gestopft“ werden soll.

Wahrscheinlich ist es dieser erweiterten Untersuchung zu verdanken, dass das Werk einen Beitrag zu mehreren relevanten Feldern leistet. So wird der Diskurs um den (imaginären) Raum Großstadt 1, zum Teil im kolonialen Kontext, aufgegriffen und mit der Konstruktion des Selbst anhand der Begegnung mit dem Fremden oder Primitiven 2 - auch innerhalb urbaner Unterhaltungsformen verortet- verknüpft.

Die Beiträge zeigen, dass der eurozentrische Zivilisationsbegriff zeitgenössisch nicht nur den Gegensatz zu „exotischen“ Völkern evozierte, sondern auch binneneuropäische Differenzierungen einschloss, sowie Gesellschaftsschichten und (Rand)Gruppen innerhalb der eigenen Bevölkerung voneinander abgrenzte.
Schichtenunabhängig beherbergte die Großstadt als „Repräsentationsort mit totalem Anspruch“ (S. 13) nicht nur das Primitive, sondern entfesselt das längst als überwunden Geglaubte in ihren von der Schnelllebigkeit und Technisierung ermüdeten Bewohnern.
Im kolonialen Kontext waren Metropolen die Orte, wo die Opposition von Barbarei und Zivilisation (her)ausgestellt und diskutiert wurde. Gleichzeitig fand hier die Störung der „schönen“ Ordnung zwischen dem Eigenen und dem Fremden statt, so dass die wissenschaftlich untermauerten und als allgemeingültig anerkannten klaren Bruchlinien zwischen dem Anfang und dem Höhepunkt der kulturellen Entwicklung unscharf wurden.

Die Beiträge ordnen sich drei Teilen zu. Die ersten vier Aufsätze sind unter der Überschrift „Urbane Spektakel des Primitiven“ zusammengefasst. Beschrieben werden unterschiedliche Präsentationsformen des Primitiven in der Großstadt, die dadurch zum Repräsentationszentrum und einer Ausstellungsfläche der Welt instrumentalisiert wurde und zugleich die Identität einer Metropole zugewiesen bekam.
Barth untersucht die als Kontrast zum ausgestellten Fortschritt „inszenierte“ orientalische Sektion der Pariser Weltausstellung im Jahre 1867. Hier bezeichnete das Primitive nicht den afrikanischen und lateinamerikanischen Indigenen, sondern den Bewohnern arabischer Länder. Dem Besucher wurde eine in sich geschlossene und überwiegend visuell abgegrenzte Traumwelt präsentiert, in der er seine Stereotype bestätigt fand. Nachdrücklich verweist der Autor darauf, dass ungeplant auftretende und die Authentizität in Frage stellende Vorkommnisse von den Veranstaltern bewusst ignoriert wurden. Schließlich sollte das Fremde neben seiner Funktion als Besuchermagnet kategorisiert, gezähmt und damit besiegt erscheinen.
Noch stärker unterstreicht Schwarz die Signifikanz der von den Europäern gewünschten Authentizität von „exotischen“ Völkern im Kontext ausgewählter Zurschaustellungen - so genannter Völkerschauen - in Wien. Die sorgfältig kalkulierte Bestimmung des Präsentationsortes leistete hierzu einen entscheidenden Beitrag. In diesen „begehbaren“ Eingeborenendörfern konnte der Besucher das Primitive aus nächster Nähe und in seiner vermeintlichen Alltäglichkeit studieren und beschauen sowie unter Vortäuschung wissenschaftlichen Interesses den Erfolg der europäischen Zivilisation ausgestellt finden. Reizvoll ist Schwarz Gegenüberstellung verschiedener Veranstaltungen und ihre Rezeption über eine längere Zeitspanne während der sich Wien zu einem bedeutenden urbanen Zentrum wandelte.
Innerhalb von ethnografischen Museen wurde das Primitive durch gezielte Repräsentationsverfahren so angeordnet, dass auch dem sich wiederum frei bewegenden und somit frei wählenden Besucher -meist Angehörige der unteren Schichten - die Botschaft der Evolutionstheorie begreiflich wurde. Bennett stellt die visuellen Techniken von Museen ausgewählter Nationen gegenüber und betont, dass nicht das Arrangieren der unterschiedlichen Exponate, sondern ihr In–Beziehungs-Setzen zu anderen, die den zivilisatorischen Fortschritt symbolisieren, dem Betrachter vermittelt werden musste. Nur so konnte das Primitive als ein Artefakt ohne Vergangenheit und ohne Zukunft auf der anerkannten Zeitentwicklungslinie der Menschheit eingeordnet werden.
Sandberg greift Ausstellungen in skandinavischen Metropolen am Rande Europas auf, die sich an der Schwelle zur „Großstadtexistenz“ befanden. Das Primitive entsprach hier nicht dem Exotischen, sondern war Musealisierung der eigenen (ruralen) Kultur und Vergangenheit sowie das ambivalente Verhältnis der Stadtbewohner zu ihr. Dieser floh bereitwillig in die innerstädtisch verorteten (Freilicht)museen vor der Gefahr einer schrumpfenden und sich vernetzenden Welt. Damit versicherte er sich gleichzeitig seiner Identität und vor allem Modernität. Schließlich waren Ausstellungen, die Vergangenheit präsentierten, Produkte modernster, urbaner Attraktionskultur.

Die Verortungen der „Imaginationsfiguren“ des Primitiven in der Großstadt werden in den folgenden drei Beiträgen untersucht, die mit „Urbane Topographien des Primitiven“ überschrieben sind.
Wie Sandberg beschreibt Müller-Richter das Primitive innerhalb der großstädtischen Gesellschaft - allerdings hier von den Unter - und Randschichten verkörpert. Erstmalig wurden Angehörige dieser Schichten durch das Verständnis eines einheitlichen und konstruierten Raumes zum Gegenstand von Beschreibungen. Der Autor belegt, dass die sozialen und topographischen Grenzziehungen unterschiedlicher Metropolen durch eine aktive bürgerliche Gesellschaft erfolgten, deren Subjekte allein in der Lage waren diese imaginierten Abtrennungen zu überschreiten.
Mattls differenziert die von Müller-Richter erwähnte Randgruppe der Verbrecher aus, die ich als absolutes Gegenbild zur bürgerlichen Gesellschaft charakterisieren würde. Als Quelle zieht der Autor die Encyclopädie des international angesehenen Kriminologen Hans Gross heran. Der Wissenschaftler plante mit seinem Werk Praktikern der Kriminalarbeit ein Instrument zur Verbrechensaufklärung zu schenken, wodurch das Primitive auf nüchterne Art überwunden werden sollte. Allerdings entspräche der Inhalt nicht seinem Titel, sondern spiegele allein populäre Stereotypen wider. Den Zigeuner betrachtete Gross als Essenz seiner definierten Verbrechertypen.
Ebenfalls als Nichtsesshafte, und damit der bürgerlichen Norm widersprechend, wenn auch nicht zwangsweise kriminalistisch, ist die von Wandauer aufgeführte Gruppe der wandernden Gesellen zu orten, die im 19. Jahrhundert einen nicht zu vernachlässigenden Anteil der „Migranten“ in Wien stellten. Dem Gegensatz der industriellen Großstädte, dem traditionellen Handwerk verbunden, suchten die Gesellen mit unterschiedlichem Erfolg ihre Identität, analog den tradierten Erfahrungen einer Walz, zum vollwertigen Handwerker innerhalb des Großstadtdschungels auszuprägen.

Im letzten Teil „Urbane Diskurse des Primitiven“ analysieren drei Autoren das Primitive in einer anderen Form, also nicht mehr auf Subjekte oder Objekte bezogen, sondern als Reflektion in Texten und Medien des Diskurses um das Primitive.
Moderne Formen visueller Massenunterhaltung und gewaltvolle Kriminalität gehören zu den Merkmalen urbaner Räume. Dies belegt Hall exemplarisch an Robert Wienes bedeutendem Werk 'Das Kabinett des Dr. Caligari'. Die Autorin zeigt, dass der Film die Kriminalanthropologie Cesare Lambrosos, die vom geborenen Verbrecher ausgeht, in Frage stellt. Das Primitive würde als etwas, das es zu überwinden gilt präsentiert, das jedoch gleichzeitig Voraussetzung für eine stetige Neudefinition der Modernität in einem ständig wechselnden Umfeld sei.
Auch in der Literatur fand das Primitive als Leitmotiv mehrfach Verwendung. Den zwischen 1890 und 1930 liegenden Paradigmenwechsel in der Beziehung zwischen Urbanität und Primitivität skizziert Dietrich anhand von drei Beispielen literarischer Exotismen von Peter Altenberg, dem Expressionisten Robert Müller und Claire Goll. Die Besonderheit fiktionaler Literatur, so der Autor, sei die Inszenierung von Authentizität „in ihrem Sprachverfahren offen“ zu legen (S. 219). Darum gelänge es, die unterschiedliche ästhetische und politische Funktionalisierung des Primitiven herauszustellen.
Erdbeer erarbeitet anhand des Fragments 'Manhatten' Robert Müllers Beschreibung des ethnischen Mischtypus als mobilen Prototypen innerhalb der Weltkultur. Die Stadt New York, das Sinnbild für Modernität, charakterisiert er als „Ethnoinkubator“ (S. 230), der von dem gebürtigen Ägypter Perez „vorsätzlich“ begangen wird. (S. 224) Herausstechend ist die Aktualität, mit der Müllers Rassenverständnis auf die heutige globale Vernetzung zutrifft. Der Expressionist definiert Rasse als historisches Produkt der allgemeinen menschlichen Wachstumsphase, das nicht an den Evolutionsgedanken gekoppelt ist. Hiermit bezieht der Autor eindeutig eine Gegenposition zu zeitgenössischen Vorstellungen, wonach Rasse als einheitlich unvermischtes Volk bezeichnet würde. In Müllers Gedankenmodell erschienen Rasse, Stadt und Primitivismus untrennbar miteinander vermischt.

Den Herausgebern gelang es ausgezeichnete Beiträge, in denen das Primitive in unterschiedlichster Art und Weise innerhalb der Großstadt herausgearbeitet und anschließend analysiert wurde, zu sammeln. Die häufige Wahl der Stadt Wien als „Untersuchungsobjekt“ könnte zu der Schlussfolgerung führen, dass dort das Primitive in seinen differenziertesten Ausprägungen präsent war, oder die Ergebnisse auf andere Metropolen übertragen werden könnten. Dies ist jedoch schon allein aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehungs- und Bedeutungsgeschichte nur bedingt möglich, wie Mark B. Sandberg in seinem Beitrag über skandinavische Hauptstädte bereits überzeugend belegte. Daher gilt es, die bisher vernachlässigten Räume ebenfalls auf die Existenzen des Primitiven in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen 3 zu erforschen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Donald, James, Vorstellungswelten moderner Urbanität, Wien 2005.
2 Bayerdörfer, Hans-Peter; Hellmuth Eckhart (Hg.), Exotica. Konsum und Inszenierung des Fremden im 19. Jahrhundert, Münster 2003.
3 Das Primitive in Form von „Exoten“ wurde bereits in unterschiedlichen Städten nachgewiesen, vgl. exemplarisch Altick, Richard Daniel, The Shows of London, Cambridge, Ma. 1978; Dressbach, Anne, Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870-1940, Frankfurt/Main 2005, sowie Bancel, Nicolas; Blanchard, Gilles Boëtsch; Deroo, Éric, Zoos humains. De la vénus hottentote aux reality shows, Paris 2002.

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Published on
07.12.2007
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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